Manche Kinder tun sich mit den Buchstaben schwer, so wie andere Kinder nicht sehr sportlich sind oder musikalisch nicht so stark begabt. Allerdings haben die Kinder mit einer geringeren Begabung für den Umgang mit Buchstaben in der Schule wesentlich größere Schwierigkeiten als etwa ein unmusikalisches Kind, da die Schriftsprache für die meisten Fächer von zentraler Bedeutung ist.
International ist die Legasthenie als „umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens“ definiert, wobei seit der Entwicklung der Forschung eine Begriffsvielfalt zu beobachten ist. „Umschriebene Entwicklungsstörung“ bedeutet, dass biologische Ursachen das Erlernen von Funktionen beeinträchtigen oder verzögern, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Diese Funktionen müssen aber bis zum Einschulungsalter intakt sein, damit das Kind störungsfrei lesen kann. Die Einschränkungen werden lange vor der Geburt im Entwicklungsgeschehen angelegt (genetisch bedingte Legasthenie) oder sie entstehen im zeitlichen Umkreis der Geburt durch Schädigung, etwa durch Sauerstoffmangel. Anregungen der Sprachentwicklung durch das Elternhaus und Einflüsse der elterlichen Erziehung haben lediglich zusätzliche Bedeutung.
Unter der Oberbezeichnung F81 (umschrieben Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten) definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0).
Das Hauptmerkmal dieser Störung ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Wörter wiederzuerkennen, vorzulesen und die Leistungen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, können sämtlich betroffen sein. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis ins Erwachsenenalter, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht wurden. Kinder mit einer umschriebenen Lese- und Rechtschreibstörung haben in der Vorgeschichte häufig eine umschrieben Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache. Eine sorgfältige Beurteilung der Sprachfunktion deckt oft entsprechende gegenwärtige Probleme auf. Zusätzlich zum schulischen Misserfolg sind mangelhafte Teilnahme am Unterricht und soziale Anpassungsprobleme häufige Komplikationen, besonders in späteren Hauptschul- und Sekundarschuljahren. Die Störung wird in allen bekannten Sprachen gefunden, jedoch herrscht Unsicherheit darüber, ob ihre Häufigkeit durch die Art der Sprache und die Art geschriebenen Schrift beeinflusst wird.
Bei der Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten spielen sehr unterschiedliche
Ursachen eine Rolle:
- genetische Voraussetzungen
- die phonologische Bewusstheit und die -Benennungsgeschwindigkeit
- die Sprachentwicklung eines Kindes
- die Hörverarbeitung
- die Sehverarbeitung
- die Aufmerksamkeit
- der schulische Unterricht
- die mehr oder weniger anregende Lernumgebung zu Hause u.v.m.
Wichtig ist es, bei jedem Kind individuell herauszufinden, welche Faktoren bei seinen Schwierigkeiten eine Rolle spielen und darauf eine entsprechende Unterstützung für das Kind bzw. die Familie oder die schulische Umgebung aufzubauen. Eine pädagogisch-psychologische Abklärung – wo liegen die Schwächen, wo die Stärken, wie kann ich Stärken einsetzen, um Schwächen zu kompensieren -ist notwendig, um das Kind zu unterstützen.
Kinder mit der Diagnose “Legasthenie” können besondere Fördermöglichkeiten und eine Sonderstellung in der Schule erhalten. Wie aber kommt die Diagnose zustande? Und wie verlässlich ist sie?
Üblicherweise findet die Diagnostik in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis statt. Weitere Anlaufstellen sind speziell dafür ausgewiesene psychologische Psychotherapeuten, Schulpsychologische Dienste oder Ambulanzen in einigen Kinderkliniken. Dort wird dann neben einer ausführlichen Befragung ein Intelligenztest, ein Rechtschreibtest und ein Lesetest durchgeführt.
Weiters dürfen auch eigens ausgebildete Legasthenie- und Dyskalkulietrainer eine Austestung vornehmen, dürfen aber nur eine „Verdachtsdiagnose“ erstellen, die aber mittlerweile auch von Schulen anerkannt wird.
Zu bedenken ist, dass hierfür auf verschiedene Testverfahren zurückgegriffen werden kann, und dass die Tests von unterschiedlicher Qualität, Messgenauigkeit und Aussagekraft sind. Jeder, der selbst schon einen Rechtschreibtest durchgeführt hat, weiß, wie leicht ein solcher Test alleine schon durch die Aussprache der Testwörter zu verändern ist. Ein weiterer das Ergebnis beeinflussender Faktor ist die soziale Interaktion mit dem Kind und die Atmosphäre bei der Testung. Zusätzlich spielen die Erwartungshaltungen der Testleiter selbst eine Rolle (sog. Testleitereffekte). Auch die Tagesform des Kindes oder vorherige Erlebnisse können die Testsituation und das Testergebnis beeinflussen. Die Testergebnisse werfen also allenfalls ein Schlaglicht auf die tatsächlichen Fähigkeiten des Kindes.
Dennoch werden die Testergebnisse als objektive Gradmesser der individuellen Schwierigkeiten behandelt und entscheiden mit darüber, ob ein Kind eine spezielle Förderung oder einen „Nachteilsausgleich“ (andere Bewertung von Fehlern) erhält oder nicht. Der Begriff Diagnose klingt medizinisch und dadurch abschreckend, da wir sofort ein “Krankheitsbild” erwarten. Dabei kann der Begriff Diagnose auch wie folgt verstanden werden: Eine Diagnose anhand eines Tests kann dem Therapeuten und dem betroffenen Kind aufzeigen, wo und wie augenblicklich die Stärken und Schwächen aussehen und wo Begabungen beim Kind vorhanden sind. Es handelt sich also lediglich um eine Momentaufnahme, die als Fördergrundlage dienen kann.
Diese Frage ist nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten. Viele Faktoren spielen eine Rolle, wenn es darum geht, ob eine Schwäche im Lesen und Schreiben irgendwann einmal ganz behoben werden kann.
Es kommt sehr darauf an, wann mit einer Förderung und Unterstützung begonnen wird. Am besten ist es natürlich, wenn diese möglichst früh ansetzt. Vor allem gilt es auch, negative Erlebnisse und Frustrationen gering zu halten.
Ausschlaggebend ist aber auch die Ausgangslage: Welche schriftsprachlichen Erfahrungen hat das Kind gemacht? Welche äußeren Einflüsse haben es beim Erlernen des Lesen und Schreibens behindert? Auf welche Fähigkeitsbereiche des Kindes können wir zurückgreifen, um das Kind zu motivieren? Wie hoch beziehungsweise niedrig ist das Begabungsniveau des Kindes für den Erwerb der Schriftsprache?
Ein weiterer Faktor sind Fähigkeiten, mit denen man unter Umständen die Schreib- und Leseprobleme über “Umwege” in den Griff bekommen kann. Ist die Ursache zum Beispiel eine Schwäche in der Verarbeitung von Lauten, so kann es helfen, die Wörter über die bildliche Abspeicherung im Gedächtnis schreiben zu lernen.
Im Allgemeinen verbessert sich das Lesen durch eine gezielte, individuelle Förderung auf jeden Fall. Es kann allerdings sein, dass die Leseleistung eines Kindes im Vergleich zu anderen Lesern langsamer bleibt und das Lesen auch anstrengender ist.
Die Verbesserung der Schreibkompetenz ist, wie schon oben erwähnt, stark abhängig von der Ausgangslage. Wenn ich zu Beginn drei bis vier Wortfehler habe und nach einer Förderung dann nur noch einen, dann ist auf jeden Fall eine Verbesserung eingetreten, auch wenn das Wort weiterhin als fehlerhaft gewertet wird. Andererseits können manche Kinder nach einer Förderung weitgehend fehlerfrei schreiben.
Kinder lernen in einer guten Förderung vor allem einen wesentlichen Aspekt: Sie lernen mit einer von außen oder von innen “verursachten” Schwäche richtig umzugehen. Sie lernen, ihre Schwächen ebenso zu akzeptieren wie ihre Stärken. Das heißt auch, dass an beidem gearbeitet werden kann, um die Persönlichkeit kontinuierlich zu festigen und zu entwickeln.
Eine der wichtigen Voraussetzungen für den Erwerb des Schreibens und Lesens ist die “phonologische Bewusstheit”. Das ist die Fähigkeit, aus einer Fülle von Lauten die richtigen herauszufiltern (z.B. ob ein Wort ein “g” oder ein “k” enthält) und die Wort- und Satzstruktur über den Klang zu erkennen.
Das zweite fürs Schreiben und Lesen notwendige Element ist, dass man in der Lage ist, Wörter nach einiger Übung richtig abzuspeichern. Ob ein Kind sich die Wortbilder – also die Buchstabenfolgen innerhalb von Wörtern – merken kann, fällt erst im Laufe der Grundschulzeit auf. Häufig schreibt es hierbei ein Wort auf einer Seite mehrmals anders falsch. Hier hilft das Üben mit einer Lernkartei. Das geht allerdings erst, wenn das Kind schon schreiben kann.
Was nun die phonologische Bewusstheit betrifft, so gibt es bereits Belege, dass ein Training im Kindergartenalter das Lesen- und Schreiben-Lernen erleichtert.
Es enthält:
Lauschübungen: Augen schließen, auf Geräusche achten
Reimen: Wörter mit gleichem Klang suchen
Sätze und Wörter: für jedes Wort einen Baustein legen
Silben: Wörter in ihre Silben zerlegen, Silben klatschen, Silben stampfen
Anlaut: gleicher Wortanfang wie bei Maus und Mond
Phoneme: erkennen einzelner Laute im Wort
Alle diese Übungen dienen zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit.
Alle Spiele mit Klang und Rhythmus machen Ihr Kind aufnahmefähiger für die Welt der Laute und die Lautstruktur, so dass es gut vorbereitet dem Schreib- und Leselernprozess begegnen kann. Zum Thema “phonologische Bewusstheit” gibt es inzwischen zudem einiges an Literatur und auch PC-Programme.
Da viele Faktoren ausschlaggebend sind, gibt es nachfolgend einige mögliche Anzeichen für Legasthenie:
Vorschulalter:
- Probleme mit Legasthenie in der Familiengeschichte
- Das Erlernen des Klarsprechens erfolgt später
- Das Kind denkt schneller als es handelt, Verwendung von ähnlichen Wörtern oder Ersatzwörtern
- Durcheinanderbringen von richtungsweisenden Wörtern hinauf/hinunter, innen/außen
- Erhöhte Kreativität, sehr oft sehr gut im Zeichnen, guter Sinn für Farben
- Hat gute oder schlechte Tage ohne ersichtlichen Grund
- Gute Auffassungsgabe für konstruktives und technisches Spielzeug, z.B. Puzzles, Lego-Bausteine,…
- Genießt es, wenn ihm/ihr vorgelesen wird
- Probleme beim Erlernen von Kinderliedern
- Probleme beim Reimen Haus-Maus,…
- Probleme beim Herausfinden eines nicht passenden Wortes, z.B. Haus, Maus, Katze, Laus
- Probleme mit Abläufen (Reihungen), z.B. farbige Perlen aneinanderreihen
- Das Kind scheint ungewöhnlich intelligent zu sein
Kinder unter oder mit 9 Jahren:
- Große Schwierigkeiten beim Lernen des Lesens und Schreibens
- Ständiges und fortlaufendes Vertauschen von Zahlen und Buchstaben, z.B. 15 für 51; d für b,…
- Probleme beim Unterscheiden von rechts und links
- Schwierigkeiten im Behalten des Alphabets, beim Multiplizieren
- Im Erinnern von Reihenfolgen, z.B. Tag der Woche, Monate, Jahr
- Fortlaufende Schwierigkeiten beim binden von Schuhbändern, Ballfangen, Seilspringen
- Unaufmerksamkeit, z.B. Frustration, die zu Verhaltensproblemen führen können
Kinder von 9 bis 12 Jahren
- Fortlaufende Fehler beim Lesen, Fehlen des Leseverständnisses
- Sonderbare Aussprache, Buchstaben werden ausgelassen oder in der falschen Reihenfolge ausgesprochen
- Für Schreibarbeiten wird ungewöhnlich lange gebraucht
- Desorganisation zu Hause und in der Schule
- Probleme beim genauen Abschreiben von der Tafel
- Wachsender Mangel an Selbstvertrauen und wachsender Frustration
Kinder mit 12 Jahren und älter
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- Neigung falsch oder unzusammenhängend zu lesen
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- Inkonsequentes Buchstabieren
- Probleme beim Planen (Entwerfen) von Schreiben und Aufsätzen
- Ernsthafte Probleme mit fremden Sprachen
- Geringes Selbstvertrauen
Kinder, die schnell auswendig lernen, können die Lese- und Rechtschreibstörung oft in den ersten beiden Schuljahren gut verbergen. Erst wenn ungeübte Diktate und Aufsätze geschrieben werden, können die Kinder sich nicht mehr auf auswendig Gelerntes stützen und die Störung wird auffällig. Dies kann auch eintreten, wenn die Anforderungen plötzlich steigen, z.B. beim Umstieg in die Hauptschule, ins Gymnasium oder bei einem Lehrerwechsel zu einem strengen Lehrer. Die Aufgaben werden schwieriger. Durch die Konzentration auf den Inhalt der Aufgabe sind nicht mehr ausreichend Ressourcen für die Konzentration auf die Rechtschreibung vorhanden. So kommt es zu den Ausfällen und die Rechtschreibung wird unzureichend benotet. In der Regel ist allerdings die Legasthenie schon vom Beginn des Lesens- und Schreibenlernens sichtbar.